Harmonie und das Gegenteil davon - oder Gedankenpferde, Vanillepudding und die Musik der Stille

Copyright Eugenia Maranke
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 Sowohl Harmonie als auch Disharmonie gehören zum Leben. Ich fühle mich „schräg“ oder ich fühle mich im „Einklang“. „Schräg“ ist doof, „Einklang“ ist wunderbar.

Bei dissonanter Musik halte ich mir die Ohren zu, harmonische zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Prinzipiell ist das ja auch völlig in Ordnung. Wir leben in einer Welt, der sich gegenseitig bedingenden Pole, eine Welt der Dualität. Was ist aber, wenn die Pole aus dem Gleichgewicht geraten? Wenn die Disharmonie überwiegt, und das immer stärker werdende Bedürfnis nach Harmonie, die nicht vorhanden scheint, noch mehr Disharmonie erzeugt?
In diesen Zeiten wollen einfach alle Harmonie! Ich auch!
Doch wie entsteht Harmonie? Im Fühlen, im Handeln, im Denken?

Sämtliche Analysen und Gedanken bei mir zu diesem Thema kratzen nur an der Oberfläche des Phänomens. Ergebnis: Akzeptiere die Disharmonie!
Da gibt es eine Menge zu akzeptieren, gerade jetzt: die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und die Rezession, um nur einiges zu nennen. Die Angst schleicht durch die Gassen und Medien, und lacht sich ins Fäustchen. Ich kann das akzeptieren, ich kann auch durchaus Harmonie in dieser Akzeptanz empfinden – aber im „Einklang“ fühle ich mich dadurch nicht.

Die Frage ist also: Wie kann ich mich im Angesicht von Disharmonie harmonisieren?

Auf der Suche nach einer Antwort half mir der Zufall: Ich hatte mich mit drei Freunden verabredet zum Musizieren. Wir beschäftigen uns mit improvisierter Musik. Sprich, wir treffen uns und legen los, aus dem Moment heraus, ohne Noten, einfach so: Trommel, Gesang, Klavier, Saxophon. Wir packten also unsere Instrumente aus, atmeten tief durch und fingen alle gleichzeitig an: Ein kakophonischer Klang hallte durch den Raum, der deutlich dissonant war. Irgendwann bemerkte ich, dass der Saxophonist nicht mitspielte. Er stand da mit geschlossenen Augen, einer entspannten Körperhaltung und hörte unserem chaotischen Klang einfach zu. Nach einer Weile hob er das Saxophon, atmete ein und spielte einen langen gefühlvollen Ton. Augenblicklich verwandelte sich das schräge Chaos in einen harmonischen Klang, der mir unter die Haut ging.

Es ist also möglich eine völlig disharmonische chaotische Musik mit nur einem Ton zu harmonisieren!
Ist das nicht faszinierend?
Da ist dann natürlich noch die Frage, was ist das für ein Ton?
Mit welcher Absicht und Klangfarbe und Lautstärke hat der Saxophonist diesen Ton gespielt?
Wie hat er den Ton überhaupt gefunden?
Diese Fragen purzelten mir sofort durch den Kopf. Mein Verstand wollte es ganz genau analysieren und sezieren, um herauszufinden, wie das geht.
Warum macht der Verstand das?
Weil er ein Patentrezept finden will, eine allgemeingültige „Regel“ oder „Lösung“, damit dieses Wunder jederzeit wiederholbar ist, und ich weiß „wie es geht“. Das ist dann so ein schönes Gefühl von Kontrolle. Dann kann mir ja nichts passieren, ich habe es „verstanden“ und „im Griff“. Der Verstand möchte es „richtig“ machen, damit er das „Falsche“ vermeiden kann.
Dumm nur, dass die Musik des Jetzt, wenn sie chaotisch ist mit all ihren Gefühlen und Gedanken, immer ein bisschen anders ist, als die des vergangenen Jetzt. Der Ton, der letztes Mal funktioniert hat, funktioniert vielleicht ein anderes Mal nur mäßig oder gar nicht.
Dadurch erzeugt der Verstand oder besser das Denken, was den lieben langen Tag vor sich in plappert, analysiert, kommentiert, bewertet, sich in Ich-und-Du-Dialoge verstrickt – ja einfach alles benennt und in kleine Kästchen packt – eine disharmonische Musik. Das macht der Verstand nicht, weil er doof ist, sondern in dem lebenslangen Bemühen, eine Welt zu verstehen, die in ihrer Essenz ein Mysterium ist – im Innen wie im Außen.

Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb sehnt sich jedes menschliche Wesen nach Harmonie, nach Gleichgewicht und Einklang – und zwar echte Harmonie – nicht die, bei der die Disharmonie unter dem Teppich oder hinter den Masken verschwindet, aus Angst vor der Etikette oder dem Gesetz.

Wie geht das?
Wie finde ich den harmonisierenden Ton, wenn der Kopf sich anfühlt wie ein Orchestergraben, in dem die Musiker gerade ihre Instrumente stimmen und sich nicht einigen können? Wenn der Klang aus der krächzenden Geige der Angst, dem Paukenschlag der Leistungs-Philosophie, der jaulende E-Gitarre der Ohnmacht und dem Trommel-Ensemble des Zorns besteht?
Und dazu kommen dann noch diese ganzen Gefühle, die auf die Gehirn-Musik anspringen. Kein Wunder, dass Mensch sich dann „verstimmt“ fühlt.
Wie geht das? Wie lässt sich dieses Durcheinander harmonisieren?

Ich fragte den Saxophonisten, wie er das gemacht hat. Er erwiderte: ”Ich habe mich entspannt, euch zugehört und dann spontan diesen Ton gespielt. Ich könnte jetzt schon nicht mehr sagen, welcher das war.“

Sofort gehen bei mir innerlich Türen auf:
In jedem Menschen gibt es ein instinktives Gefühl für Harmonie. Um es wahrzunehmen, ist wohl Entspannung und Akzeptanz essenziell. Und dann stelle ich mir einfach die Frage: Was fühlt sich für mich JETZT harmonisch an?
Ich nehme meinen Atem wahr, dann seufze ich schon und entspanne mich. Der Orchestergraben im Gehirn kann durchatmen und die Instrumente zur Seite legen mit dem Gefühl, dass die Philosophie von „richtig“ und „falsch“ jetzt mal schnurz ist. Es geht ja bloß um Entspannung.
Die Ent-spannung, die dadurch entsteht, ist die eigentliche Antwort auf die Frage: Wie kann ich mich selbst harmonisieren?
Aus dieser Entspannung heraus, nehme ich einfach anders wahr, ändere meine Frequenz, reite auf einer anderen Welle. Da wird sehr schnell ein wahres Bedürfnis klar, was vielleicht erfüllt werden möchte, oder eine gute Idee blubbert aus der Tiefe empor.
„Entspannung“ ist hier nur ein Wort für etwas, was sehr tief geht. Es ist eine andere Entspannung, als mich auf 's Sofa zu legen oder in eine heiße Wanne, während die Gedanken ackern wie ein Pferd – ein sehr müdes Pferd. Das ist nett für den Körper mal so 'rum zu liegen – oberflächlich gesehen – aber diese Art von Wellness-Entspannung ist nicht sehr tief. Es geht mehr darum, das Pferd abzusatteln, es auf die grüne Wiese zu schicken, und ihm beim Grasen zuzusehen.
Hast du jemals einem Pferd beim Gras-Rupfen zugehört – mit geschlossenen Augen?
Ich kann es sehr empfehlen, es ist wie Vanillepudding für die Ohren.

Genauso wie es möglich ist, einem Pferd zuzuschauen oder zuzuhören, so kann ich auch meine Gedanken beobachten. Ich trete einen Schritt zurück mit meiner Aufmerksamkeit, setze mich auf den Zaun und kaue an einem Strohhalm.
Das interessante ist, dass Aufmerksamkeit sich lenken lässt. Energie folgt der Aufmerksamkeit und die Aufmerksamkeit folgt dem Willen, der Konzentration oder der Absicht.
Wenn ich also zum Beispiel aufmerksam meinen Atem beobachte, ist meine „Energie“ im Atem – und nicht in den Gedanken. Ich nehme das Denken zwar wahr, aber meine Energie ist woanders. Dadurch wird das Denken langsamer und „durchsichtiger“ bis, ja ... tatsächlich Stille eintritt.
Dann lässt die Spannung nach und ich ent-spanne mich. Jetzt komme ich in den richtigen Zustand für die Antwort auf die Frage: Was empfinde ich JETZT harmonisch?
Und dann kommt der Ton, von ganz alleine: manchmal gibt es ein Bedürfnis zu erfüllen, manchmal summe ich in mich hinein, manchmal taucht die „Lust auf etwas“ auf, manchmal muss ich nichts finden, sondern einfach so „da zu sein“ ist die vollkommene Harmonie.
Aus diesem harmonischen Zustand heraus lassen sich auch Gedanken „anders“ wahrnehmen. Die Gedanken sind von einer Stille, einem Bewusstseins-Raum umgeben.

Das ist so, wie wenn ich vom Zaun aus nicht mehr nur das Pferd anschaue, sondern auch in den blauen Himmel blinzele oder auf einmal den ganzen Raum um das Pferd herum wahrnehme, sogar den Raum hinter mir und in mir.
Ich nehme den Raum wahr zwischen meinem wahrnehmenden „Ich“ und den Gedanken.
Was passiert, wenn die Wahrnehmung des Raumes stärker wird, als die Wahrnehmung der Gedanken?
Ich kann erkennen, dass „ich“ gar nicht der Gedanke bin, voll mit Information – sondern „ich“ bin der Raum. Gedanken werden fast zu Objekten – wie zum Beispiel eine Kaffeetasse.
Hier entsteht die Freiheit Gedanken zu glauben oder eben nicht.
Ganz ehrlich, wenn ich da so auf dem Zaun sitze und die Gedanken-Pferde grasen vor sich hin, kann ich ihre Schönheit bewundern und gleichzeitig dieser wirklich stillen Stille lauschen. Dann ent-spanne ich mich. In diesem Zustand kann ich spüren, was sich für mich wahrhaftig anfühlt.
Ich kann unterscheiden, welche Gedanken-Rösser wirklich aus der Tiefe meiner eigenen Lebenserfahrung empor galoppieren, und welche Ponys ich nur im Kopf habe, weil mir das irgendjemand erzählt hat, ich es den Nachrichten gesehen, oder im Internet gelesen habe. Darüber muss ich nicht nachdenken, es wird einfach von alleine klar. Gerade jetzt beim Schreiben, sagt mein Verstand sofort: „Das Leben ist aber kein Pony-Hof!“

Stille.

Und schon ist der Gedanke verschwunden. Ich musste noch nicht einmal darauf antworten. Herrje, so viel Text für etwas, was in Sekundenschnelle passieren kann – vielleicht nicht immer – nicht als Patentrezept – vielleicht aber immer öfter?
Ich versuche es zumindest, versuche mich vor allem daran zu erinnern. Und wenn das geschieht, passiert der Rest von alleine. Ich suche mir einfach die Ponys und Pferde aus, die auf meinem Hof leben, der Rest der Herde darf gerne in die Steppen der Unendlichkeit ziehen. Ich muss nicht glauben, was die Herde glaubt.
Es ist möglich, dass meine ganz eigene persönliche harmonische Musik der Stille mich in eine Welt begleitet, wo vielleicht Menschen Masken tragen und die Angst-Geige krächzt, aber ... das macht nichts.
Ich reite auf meinem Harmonie-Pferd und zwar ohne Sattel, wie ein Kind auf einem Pony. Ein Kind, was noch nicht reiten gelernt hat und sich einfach tragen lässt – von der Musik der Stille.

 

Eugenia Maranke