Von der Erlaubnis den eigenen Schmerz zu empfinden

Copyright E. Maranke.
Copyright E. Maranke.

Ich sitze mit Freunden in einer fröhlichen Runde. Ich habe Geburtstag, es gibt Kaffee und Kuchen, und die Stimmung ist wunderbar. Es wird geschwatzt und gelacht, und das, obwohl sich einige gar nicht so gut kennen. Ich genieße es, so da zu sitzen, bis ich auf einmal einen Missklang in mir fühle.
Als Geburtstagskind wurde mir an diesem Nachmittag viel Aufmerksamkeit zuteil - am Anfang. Mittlerweile ist das nicht mehr so. Ich sitze alleine herum, während sich meine Gäste amüsieren. Irgendwie komme ich mir ausgeschlossen vor. Was ist los? Ich fühle mich, wie Öl auf Wasser. Niemand hat mir etwas getan, alle sind nett zu mir gewesen. Habe ich einen „Aufmerksamkeitskater“? Falls ja, dann ist er ganz schön am Miauen. Je länger ich da sitze, desto trauriger fühle ich mich. Gleichzeitig spüre ich auch Scham: Niemand soll das bitte bemerken, denn ich komme mir vor, wie eine Mimose. Eine echte Patt-Situation. Herrje, ich kenne dieses Gefühl. Es tut weh, ich sitze in der Klemme, es ist unerklärlich, es kommt einfach hoch – manchmal sogar, wenn es am schönsten ist mit anderen Menschen.

Meine Kindheits-Konditionierung breitet sich vor meinem inneren Auge aus. Sie erscheint, wie eine Art roter Strang mit einigen Knoten drin – Erinnerungsknoten. Ohne mich an bestimmte Situationen aus der Kindheit zu erinnern, weiß ich, es geht um Liebe und Zugehörigkeit. Das Gefühl von Zugehörigkeit ist aus meiner Sicht essenziell für ein Kind. Und wie das Leben so will, ist es aber in jeder Familie, die ich kenne, nicht dauerhaft gegeben – und in meiner Ursprungs-Familie war es eben auch nicht so..
Die Abhängigkeit des Kindes von den Eltern ist monumental. Ich kann mich erinnern, wie sich dieser Schmerz angefühlt hat, wenn Mama oder Papa mal nicht guter Stimmung, oder sauer auf mich waren. In einer verzweifelten Verlorenheit und in dem Bemühen eine Erklärung zu finden, war ich natürlich „schuld“ daran. Na ja, ich denke jedes Kind auf diesem Planeten tüftelt sich dann irgendwas zusammen, um mit diesem Schmerz fertig zu werden, und ihn möglichst zu vermeiden.
Wenn ein Kind die Erfahrung macht, dass wenn es wütend ist, Mama sauer wird, ist ja klar, was es zu vermeiden gilt. Wenn man nach der großen Wut dann weint, nachgibt und der sauren Mama hinterherläuft, welche daraufhin ein Einsehen hat, und das Kind in den Arm nimmt (was sich prima anfühlt), ist offensichtlich, wonach es zu streben gilt. Der Kreis schließt sich in einem krassen überdimensionierten Schwarz-Weiß-Bild: wütend heißt falsch, ungeliebt, und nachgeben, weinen und lieb sein, heißt richtig. Dass die Ablehnung der Mutter bei einem Wutanfall des Kindes, nicht auf das Kind als Ganzes gerichtet ist, sondern nur auf den Wutanfall oder die Situation, versteht das Kind nicht. Wahrscheinlich hat die Mama als Kind etwas Ähnliches erlebt und trägt auch ein Schwarz-Weiß-Bild mit sich herum.
So eine Erfahrung ist nur einer von vielen Erinnerungsknoten in meinem Strang. Ein kindliches Glaubens-System hat sich damals gebildet und ist heute immer noch präsent. Es ist einfach so. Niemand hat Schuld, alle (die ich kenne) haben etwas Vergleichbares erlebt, einige machten Therapie deswegen – ich auch.

Während mir das klar wird, schenke ich mir noch einen Kaffee ein. Niemand anders würde das tun, niemand hat bemerkt, dass meine Tasse leer ist. Ich gehöre ja nicht dazu, ganz klar. Von den Gesprächen um mich herum bekomme ich in meiner „Traurigkeits-Blase“ kaum noch etwas mit. „Du spinnst mal wieder“, zischt es durch meinen Kopf. Ich spüre, wie meine Gedanken zornig auf mir oder meinen Freunden herumhacken wollen, aber ich lasse das nicht zu. Ich habe diesen Zustand schon oft durchlebt und möchte ihn wirklich „verstehen“, nicht intellektuell, sondern gefühlt.

Wieder erscheint der rote Strang vor mir. Mir wird klar, wie intensiv die Abhängigkeit eines kleinen Kindes von den Eltern ist: einfach überlebenswichtig.
Dementsprechend wird jeder Konflikt persönlich genommen, macht Angst und es ist sehr irritierend für die kindlichen Gefühlswelten, wenn der Haussegen schief hängt. Instinktiv geht es im Kinderherzen dann um Leben oder Tod. Alle Eltern, auch meine, wollen solche Situationen natürlich vermeiden, aber in jeder Familie entstehen sie trotzdem.
Diese Abhängigkeits-Beziehung kann für Kinderaugen ganz einfache Botschaften haben: Meine Eltern zeigen oder sagen mir, wer ich bin. Das fühlt sich angenehm oder unangenehm an. Das Angenehme ist erstrebenswert, das Unangenehme gilt es zu vermeiden.
So im Groben, würde ich Kindheits-Konditionierung beschreiben. Dazu gäbe es bestimmt noch viel zu sagen und zu denken, aber das erscheint mir in dieser Situation zu kompliziert. Ich möchte ja bloß Verständnis für mich gewinnen.

Ich bin jetzt 55 Jahre alt geworden, die Kindheit liegt weit in der Vergangenheit – und doch erscheint mir dieser rote Strang fast wie eine Nabelschnur, die mich mit dieser Anfangszeit meines Lebens verbindet. Ja, ich habe das Gefühl, sie zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben: mal mehr, mal weniger präsent, mal leicht verändert, mal in der Originalfassung. Es liegt ganz klar vor mir: Ob ich okay bin oder nicht, unterliegt Bedingungen. Einfach so Da-Sein reicht auf keinen Fall.
Mir hat mal jemand gesagt: “Die Dinge geschehen, wie sie geschehen, aber die wahre Freiheit liegt auf der Ebene der Interpretation.“
Wenn man so will, ist das kindliche Glaubens-System, vor allem als Erwachsener, eine Zwangs-Interpretation – die natürlich aus der Vergangenheit kommt, tief aus dem Unbewussten. Diese Bewertungen von Okay und Nicht-Okay entbehren zum Teil jeder Logik, vor allem, wenn dazu die Gefühlswelten noch mächtig anspringen. Dieser Zwang, erzeugt sofort Widerstand, und die inneren Konflikte gehen los ...
Ich muss seufzen. Ich will das endlich loswerden, und gleichzeitig will ich nicht gemein zu mir sein. Ich bin kein Kind mehr. Mittlerweile habe ich selbst ein Gefühl dafür, wer ich bin, egal was andere Menschen sagen. Und doch passiert es immer wieder, wenn ich nicht die Anerkennung bekomme, die ich erwartet habe, oder wenn ich ungerechtfertigt angepfiffen werde, dass etwas in mir zusammensackt in ein armes Häufchen voller Tränen und Zorn: ungeliebt, nicht dazugehörig, einfach falsch, und ganz eindeutig nicht okay. Die Ebene der Interpretation macht Zwangs-Flick-Flack, und der innere Kritiker hat den Spaß seines Lebens.

Es ist offensichtlich, dass die Ursache für die ultimative Anerkennung, Sicherheit, Liebe und Geborgenheit nicht im Außen liegen kann: Liebe kommt, Liebe geht. Erfolg kommt, Erfolg geht. Schmerz kommt, Schmerz geht. Das Dumme ist nur, dass das Kind in mir immer noch glaubt, dass die Außenwelt mir dieses wundervolle unveränderliche Zuhause bescheren kann: ewige Liebe und Geborgenheit, ohne Wenn und Aber.

Ein Gedanke kann reichen, ein schräger Blick von meiner besten Freundin, oder einfach keine Aufmerksamkeit an meinem Geburtstag zu bekommen – und der rote Strang kommt in Schwingung, als ob jemand an ihm zupfen würde, wie an einer Gitarrensaite. Und dann sitze ich in der Gefühls-Wahrnehmungspatsche, und um mich herum finde ich nur Beweise dafür, dass ich nicht dazu gehöre und alles ganz furchtbar ist.

Eine Hinwendung nach Innen ist für mich zur ultimativen „Lösung“ geworden. In meditativen Zuständen verschwindet die Ebene der Interpretation vollkommen. Der Kopf wird still, der Atem fließt, und es ist was ist. Selbst der Widerstand gegen das, was ist, löst sich auf, wenn er sein darf. Es stellt sich ein Gefühl von Frieden und Ganzheit ein. Ich bin, die ich bin. Dafür brauche ich mir noch nicht einmal Erlaubnis zu geben, es ist einfach so – inklusive Kindheits-Konditionierung. Hier ist dieser innere Ort, dieses Wohlfühl-Zuhause: still, friedlich, unveränderlich und vollkommen im Jetzt. Ich kann es überall mit hinnehmen, wie eine Schnecke ihr Haus. Leider ist es mir nicht immer bewusst.

Mit diesem Wissen sitze ich nun da, nicht im stillen Meditationsraum, sondern an meinem Geburtstagstisch. Da ist nichts mit innerem Frieden – sondern einfach wieder die alte Patsche.
Aber diesmal bestehe ich darauf: Ich möchte sie erleben, wie inneres Wetter. Dann ist da halt mal inneres Gewölk am Himmel und es regnet. Ich möchte diesem Gefühlsmulm die Tür öffnen zu diesem bezaubernden Schneckenhaus. Ich möchte nicht mehr analysieren, und ich möchte es auch nicht „weg haben“, oder mal wieder irgendjemandem Schuld zuweisen. Das kommt nicht in die Geburtstags-Tüte!

„Ich brauche mal frische Luft“, erwähne ich beiläufig und gehe hinaus in den Garten. Da stehe ich nun in der Dämmerung und atme tief durch. Ich schließe meine Augen und atme weiter. In meinem Kopf wird es still und ich spüre den Schmerz ... meiner Kindheit. Das wird auf einmal sehr klar. Ich spüre auch den Impuls wegzulaufen vor diesem Schmerz, ihn nicht haben zu wollen, was ich sehr gut verstehe. Es ist einfach alles da – und ich empfinde es mit voller Aufmerksamkeit. Langsam stellt sich der innere Frieden wieder ein. Der Schmerz verblasst. Und ich bin einfach ein Mensch, der gerade ein „Autsch“ hatte. Keine Interpretation, keine Analyse, kein Selbstbild. Stille.

Ich gehe wieder hinein zu meinen Freunden. Auf eine verletzliche Art empfinde ich Frieden, Liebe zu diesem verletzten Teil in mir und Dankbarkeit. Mein Freund kommt zu mir. „Ist alles okay mit dir?“, fragt er leicht besorgt. Während ich ein Zitronen-Röllchen löffle, erzähle ich ihm ein bisschen, was da so war in meinem Innenleben. „Das kenne ich auch“, sagt er mitfühlend. Plötzlich springt unsere Katze auf den Tisch und versucht ein Stückchen Torte zu stibitzen. Ihr Blick ist gierig und leicht besorgt, da sie weiß, dass sie das nicht darf. Mit einer Pfote voller Tortenschmadder flitzt sie von dannen. Ich muss lachen. Auf einmal scheint wieder die Sonne innen drin. Ich genieße es und gleichzeitig ist mir bewusst, dass sie nicht für immer scheint – und das ist okay.

Aus meiner Sicht liegt die große Befreiung nicht auf der Ebene der Interpretationen, Bewertungen und Analysen, sondern außerhalb derselben: in einer bewussten Stille, die einfach ist.
Was passiert, wenn ich mir einfach erlaube meine schmerzhafte, einengende Kindheits-Konditionierung zu empfinden, ohne Interpretation? Was passiert, wenn ich die Menschen um mich herum einfach empfinde, ohne Interpretationen? Was passiert, wenn ich die Interpretation einfach empfinde, ohne Interpretation?
Die Antworten auf diese Fragen mögen je nach Lebens-Situation unterschiedlich sein, aber eines ist mir klar geworden: Alles, dieses ganze Ringen mit dem Leben, dieses ganze Anders-sein-wollen-als-ich-bin, dieses nie zu stillende Bedürfnis endlich okay zu sein – streben nur zu einem Ziel: der Empfindung von Liebe und Verbundenheit.
Und es gibt nur einen Ort, wo dieses unstillbare Verlangen erfüllt werden kann: im Innen. In der stillen Jetzt-Präsenz liegt dieses sprudelnde Füllhorn, was all die Bedürftigkeit nährt, was echte Geborgenheit entstehen lässt.

Trinke aus dem Füllhorn und die Knoten lösen sich.

 

Eugenia Maranke