Wenn der Verstand zum Sitzen kommt

Copyright E. Maranke.
Copyright E. Maranke.

 

 

Ich verstehe Putin nicht. Ich verstehe weder die Nato, noch die Ukraine, noch den Geist des Krieges. Ich kann es einfach nicht nachvollziehen. Die Nachrichten machen mich nicht klüger, auch Informationen aus dem Internet bewirken nicht, dass ich das Gefühl habe, diese Kriegs-Tragödie wirklich zu verstehen.

Ich schließe die Augen und mache geistig einen Schritt zur Seite, versuche mich in Putin einzufühlen – nichts –, wieder einen Schritt zur Seite – ein ukrainisches Kind ... das Kind verstehe ich. Da sind nur zwei Aspekte: Ich verstehe das Alles nicht, und Krieg ist furchtbar.

Ich muss an Jidduh Krishnamutri denken, der schreibt: „Wahres Verstehen geht weit über den Verstand hinaus.

 

Ich beobachte einen Ehe-Streit unter Verwandten. Sie machen sich Vorwürfe, haben Angst, stellen Forderungen, sind wütend. Es geht um Recht und Schuld. Wer muss sich ändern, und wer darf so bleiben, wie er oder sie ist? Es geht darum, wer die Oberhand behält – das wollen natürlich beide. Wie durch ein Wunder kommen sie sich wieder näher. Über den Streit, der fast zur Trennung geführt hätte, wird nicht mehr gesprochen. Der nächste gemeinsame Urlaub wird gebucht – und es geht so weiter wie vorher. Das kann ich verstehen, nachvollziehen, und denke mir: wie im Kleinen, so im Großen.

Wenn ich Kriege auf die ganz persönlich-menschliche Ebene ziehe, vermute ich Menschen in der Politik, die ähnlich fühlen und denken, wie das Ehe-Paar.

So, jetzt habe ich den Krieg verstanden! Das hilft mir. Ich kann klarer wahrnehmen.

 

Das Frühlings-Licht zwinkert mir gerade vergnügt zu, während ich auf meinem Garten-Stuhl sitze, schreibe und immer wieder in den Himmel schaue. Je weniger Wolken da sind, desto mehr sehe ich das Licht. Manchmal habe ich das Gefühl dramatische Gedanken, Selbstbilder und Bewertungen schieben dauernd Wolken vor mein inneres Licht: dieses weite Bewusstsein, was „Geist“ genannt wird, in dem das Denken und Fühlen einfach geschieht.

Anderen Menschen geht das sicher genauso. Ich möchte gar nicht wissen, was für ein Gewölk sich zusammengebraut hat in den Köpfen von Politikern und Soldaten, dass sie so handeln, als ob das Leben anderer Menschen und der Natur, gar nicht mehr zählt.

Es braucht schon eine echte Ent-spannung, ein Aussteigen aus dem Drama, eine echte Stille in Bauch und Kopf, um einen „Licht-Blick“ zu erhaschen.

 

Es ist ein Jammer, dass es immer ein „Gut“ und Böse“ geben muss – ein Opfer, Täter und Retter. Der Täter ist „böse“, der Retter ist „gut“, das Opfer ist „arm dran“ – und eigentlich „gut“, aber der „böse“ Täter kann das nicht sehen, weil er sich selbst als Opfer oder Retter empfindet. Das Drama-Dreieck lässt grüßen.

Das Drama-Dreieck ist für mich nicht mehr ein psychologisches Modell, sondern eher ein archetypisches. Es taucht überall auf, ob es nun ein Film ist, ein Märchen oder Weltpolitik. Wenn die Rollen sich verhärten und es keine Wandlung gibt, lese ich das Märchen meist nicht zu ende, oder mache den Film nach einer Weile aus. Entweder bin ich gelangweilt, oder es geht mir zu viel um Gewalt. Gewalt ist in der Tat keine Lösung, sondern nur ein Zeichen von verhärteten Fronten oder Rollen – und es entsteht natürlich viel unsägliches Leid.

Bevor ich mich jetzt aber eine Etage höher stelle und das Alles bewerte – so etwas liebt mein Verstand –, fasse ich mich an meine eigene Nase: ich kenne das Drama-Dreieck sehr gut aus meinem Leben, sowohl im Innen als auch im Außen. Wie im Aller-Kleinsten, so im Aller-Größten.

 

Ich glaube alle Lebewesen – seien es Menschen oder Mikroben – sind ausgerichtet auf Harmonie und Gleichgewicht. Das wollen einfach alle. Wenn etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, fängt es an zu „ruckeln“: Der Wandel geschieht, bis die Harmonie wieder hergestellt ist. Harmonie ist gleichzusetzen mit echtem Frieden – keinem erzwungenen, unreflektierten, ungeklärten Frieden zwischen Siegern und Besiegten, der bloß darauf wartet seiner Wut freien Lauf zu lassen, um sich wieder in Krieg zu verwandeln.

Aber was ist die Lösung? Wie kann es echten Frieden geben – in mir – bei dem Ehe-Paar – zwischen Russland, der Ukraine, der Nato, Europa, Amerika? Was wäre der Anfang von echtem Frieden?

 

Darüber reden, wäre das Erste, was mir einfällt. Es kommt halt darauf an, wie gesprochen wird. Beim Sprechen ist der Verstand ja nun wirklich gefragt. Aber kann er ohne ein wirkliches Verständnis, was weit über den Verstand hinausgeht, antworten? Oder zumindest ehrlich teilen? Oder wirklich zuhören?

Ich bezweifle es. Der Verstand ist nur ein kleiner Teil des wahren Verständnisses. Da ist so viel mehr.

 

Ein wertfreies Schauen kann die Tür öffnen: Einfach etwas anschauen, was so ist, wie es ist – und es sein lassen, so wie es ist. In dieser Entspannung, wo jede Zelle erleichtert seufzt, wo wirklich der allerkleinste Kleinst-Muskel zitternd die Spannung löst und sich dem Moment hingibt – in diesem Zustand habe ich wahres Verständnis.

Mein ewig plappernder und wertender Verstand kommt endlich mal zum Sitzen. Fasziniert lässt er sich auf einen Sessel plumpsen und schließt sich dem wertfreien Schauen einfach an. Was dabei heraus kommt, ist eine vollkommene Akzeptanz.

Eine Akzeptanz für mich, die wahrnimmt – und eine Akzeptanz für das, was ich anschaue. Ja, es ist fast, als ob die Dimension von Subjekt und Objekt verschwimmt, als ob die Trennung aufhört. Was dabei herauskommt ist geistige Verbundenheit.

 

Ich könnte mir gut vorstellen, dass Gespräche, die aus diesem Zustand heraus geführt werden, tatsächlich zu annehmbaren „Lösungen“ von Konflikten führen – bei mir – bei dem Ehe-Paar – in der Politik. Auch Opfer-, Täter- und Retter-Rollen könnten entspannt ein Nickerchen machen.

Bis das passiert, versuche ich es selbst.

 

In diesem Sinne wünsche ich jedem Verstand dieser Welt einen gut gepolsterte Sessel, auf dem er sitzen, sich entspannen und Wandel geschehen lassen kann – sodass wahres Verständnis entsteht: für sich selbst und andere.

 

Eugenia Maranke